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18. Juli 2020

Ausflug der Woche: Auf dem Emscher-Radweg mitten durchs Ruhrgebiet

Aus: »Emscher-Touren. In 5 Tagen mit dem Fahrrad durch den Pott« von Johannes Wilkes und Rainer Götzfried

Wir stellen Ihnen heute den 1. Reiseabschnitt des Emscher-Radwegs vor: »Erster Reisetag: die junge Emscher«

 

Allem Anfang wohnt ein Zauber inne: Das Quellgebiet der Emscher am Rande des Ruhrpotts ist pure ländliche Idylle. Im Quelltopf spiegelt sich das Fachwerk des Lünschermannshofs, wir fahren durch blühende Wiesen, begegnen den Anfängen des Bergbaus, halten an der ersten Trinkhalle der Emscher, treffen den Retter von Aplerbeck und staunen über ein altes Wasserschloss.

Die Quelle am Lünschermannshof

Wer zur Quelle der Emscher will, muss bei Holzwickede den Haarstrang hinauf. Haarstrang – uns gefällt der Name des niedrigen Hügelzugs, der von Westen kommend das Ardeygebirge verlängert, um sich in den fruchtbaren Hellwegbörden zwischen Äckern und Feldern zu verlieren. Der Haarstrang trennt das Ruhrtal im Süden von der Stadt Dortmund im Norden. Nicht nur der Name ist poetisch, poetisch ist auch die Landschaft, und je näher man der Quelle kommt, desto poetischer wird sie.

Leuchtend gelber Raps und kleine Wälder säumen den Weg, Apfelbäume blühen an den Wiesen, es wird immer grüner, bis man vor einem stattlichen Fachwerkbau steht, dem Lünschermannshof. Die letzten Meter zur Quelle muss man zu Fuß gehen.

Wir stellen unsere Räder ab und betreten ein kleines Paradies. Aus einem versteckten Teich schickt eine umgestürzte Weide ihre frischen Triebe in den Abendhimmel, und ringsherum breitet sich der Waldmeister aus. Über Holzdielen geht es um den Hof herum, in die Planken eingelassene Sprüche bereiten einen auf das Thema Wasser vor.

»Das Wasser ist das Schiff der Seele«, sagt Al-Djiznaatu Al Adab, und Goethe stellt fest: »Alles ist aus dem Wasser entsprungen, alles wird durch das Wasser erhalten.« Und dann stehen wir vor dem Quellteich. Ein Teppich aus weißen Blütenblättern treibt auf den Wellen; Kirschen und Weißdorne, vielleicht auch die Kastanien haben es kräftig schneien lassen. Stattliche Bäume halten schützend ihre Zweige über die Quelle und spenden ihr Schatten.
Von Zeit zu Zeit soll ein hübsches Frauengesicht im Quellwasser auftauchen, erfahren wir, das Antlitz der Emrizza, einer reichen, aber hartherzigen Frau, die kein Mitleid mit den notleidenden Menschen aus Holzwickede hatte. Ein himmlischer Geist habe ihr deshalb prophezeit: »Was du im Leben versäumt hast, wirst du nach deinem Tode gutmachen.« Und so warnt Emrizza die Holzwickeder seit vielen hundert Jahren vor Bränden. Erscheint ihr Gesicht in der Emscherquelle, sollte man tags drauf die Löscheimer füllen oder das Haltbarkeitsdatum seines Feuerlöschers überprüfen.

»Ein früher Brandmelder, die Dame.«
»Praktische Sache.«
Neugierig betrachten wir die gekräuselte Wasseroberfläche.
»50 Liter schüttet die Quelle in der Minute, durchschnittlich natürlich.«
50 Liter in der Minute? Das wäre in der Sekunde ungefähr eine Sprudelflasche. Gar nicht mal so schlecht.
Im Jahr 1824 hatte der preußische König Landvermesser in seine neuen westfälischen Provinzen geschickt. Die Männer folgten auch dem Lauf der Emscher, um deren Quelle zu kartieren. So kamen sie schließlich nach Holzwickede und zu dem Schluss: Die Emscher sprudelt am Lünschermannshof
aus der Erde, den man flugs Emscherquellhof taufte. So steht es amtlich im Kataster. Eine junge Frau aber, die ihren Hund an die Leine legt, lacht uns aus. »Dat is gar nich die echte Quelle vonne Emscher. Die is hinten in dat Wäldken. Lohnt aber nich, is ’ne olle Modderpfütze.«
Mit westfälischem Witz hatte die Emscher den preußischen Kartografen einen Streich gespielt. Versteckt entspringt sie im Hixterwald, einige Hundert Meter südwestlich der offiziellen Quelle.
Gewitztheit scheint ihr in die Wiege gelegt, auch nach dem Passieren des Quellhofs hält sie sich an keine Regeln. Kaum ist sie am Hof vorbeigeplätschert und hat sich mit zusätzlichen Wassern für ihren Weg gestärkt, hat sie nichts Eiligeres zu tun, als zur Hälfte wieder zu verschwinden. Wie die junge Donau, so versickert auch die Emscher in der Erde, dringt durch Spalten und Klüfte in den löchrigen Boden, um erst nach einer hübschen Weile auf verborgenen Wegen wieder ans Tageslicht zu kommen und sich mit ihrer oberirdischen Hälfte zu vereinigen. Fast scheint es, als habe die Emscher ihr Lebensmotto schon auf den ersten Metern festgelegt: halb im Licht und halb im Schatten. Ein nicht geringer Teil von ihr wird bis heute für immer unsichtbar bleiben.
Bevor wir aufbrechen, werfen wir noch einen Blick auf den aufwendig renovierten Fachwerkhof. Das Einzige, das  die schwarz-weiße Harmonie stört, ist eine Stelle zwischen den Balken, an der der Putz herausgefallen ist. Ein Erdbeben? Böse Buben? Pfusch am Bau? Weder noch. Eine kleine Tafel erklärt uns den Grund. Man will mit dem nackten Feld die Architektur des Fachwerks demonstrieren. »Wär auch schön ordentlich kaputt«, bemerkt Rainer.

Holzwickede: die Quellstadt
Wir schwingen uns wieder auf die Räder, wobei wir dem Symbol des Emscherradwegs folgen: ein geschlängeltes Weiß auf blauem Grund, im Hintergrund ein Förderturm. Nach wenigen Hundert Metern erreichen wir ein hohes Holzgestell, drei lange Pfosten, die das Gerüst für einen Seilzug bilden. Sie umstehen einen historischen Schacht, der senkrecht in die Tiefe führt. Die erklärende Tafel aber gesteht, dass aus diesem Schacht nie Kohle gefördert wurde, mit dem primitiven Förderturm wolle man nur das Prinzip des frühen Bergbaus demonstrieren, als an manchen Stellen mit Kohle gefüllte Eimer ans Tageslicht befördert worden waren. Der Schacht hier diente einst Belüftungszwecken, war ein sogenannter Wetterschacht.
Zeche Margaretha wurde gegründet, als sich Goethe, unser eben zitierter Wasserexperte, noch im besten Kindergartenalter befand. Von 1754 bis 1902 hat man in der Zeche Margaretha nach schwarzem Gold geschürft, dann war Schicht im Schacht. Wir staunen nicht schlecht. Der Kohleabbau im Revier kann auf eine stolze Tradition zurückblicken.

Schon in ihren Anfangsgründen ist die Emscher also von Kohle umgeben. Hier in Holzwickede, dem Kreißsaal der Emscher, findet man noch zahlreiche weitere Hinweise auf frühe Zechenanlagen. Es gibt ein Mundloch zu besichtigen, den an einem Abhang gelegenen horizontalen Eingang zu einem Bergwerk, auch finden sich noch kleine, längst überwucherte Halden und sogenannte Pingen, Bodenvertiefungen, die auf Bergsenkungen zurückzuführen sind, ein Lehrpfad berichtet von weiteren berggeschichtlichen Orten. Sehr tief mussten die Kumpel anfangs nicht graben. Auf dem Haarstrang, am Rande des Rheinischen Schiefergebirges, stieß der nach Norden driftende Gondwana-Kontinent vor vielen Hundert Millionen Jahren auf den Old-Red-Kontinent, wodurch sich der über 10.000 Meter mächtige Gesteinsstapel in Falten zu legen begann. Das flözführende Karbon brach an die Oberfläche, um Richtung Norden immer tiefer im Boden zu versinken. »In der Schule hat man uns erzählt, ein Hirtenjunge habe seine Schafe auf dem Haarstrang geweidet. Als er um seine Feuerstelle einige dunkle Steine legte, fingen diese plötzlich an zu glühen. So sei das Geheimnis der Kohle entdeckt worden.«
»Man hat die Steinkohle also tatsächlich im Tagebau schürfen können.«
»Zumindest eine Zeit lang. Aus dem Jahr 1302 existiert eine Urkunde, welche die Schenkung eines bei Dortmund gelegenen Hauses samt ›Kohlengrafften‹, beschreibt, worunter man Kohlegruben verstanden hat. Aber vermutlich hat man im Emscherland schon viel früher nach Kohle gegraben.«
Die Kohle war ihr Schatz und zugleich ihr Schicksal. Ohne die Kohle wäre es der Emscher nicht so dreckig ergangen. Auf verschlungenen Pfaden rollen wir nun den Haarstrang hinunter Richtung Norden, linker Hand präsentiert sich überraschend grün die Stadt Dortmund, in der Ferne sehen wir das Münsterland liegen. Markant grüßt aus dem Westfalenpark der Fernsehturm, »Florian« genannt, bei seiner Errichtung 1959 das höchste Bauwerk Deutschlands. Wer sich oben an einen Tisch setzte, konnte das Ruhrgebiet bei einem Bierchen von allen Seiten betrachten, im ersten Drehrestaurant der Welt. Seit 2015 ist es leider geschlossen. Wir werden noch in seine Nähe kommen, am »Florian« vorbei schlängelt sich die Emscher Richtung Westen.

Zügig geht’s nun hinein in den Ortskern von Holzwickede. Im Wappen führt die Gemeinde den Hilgenbaum. Die einen sagen, Hilgen seien Zettel mit wichtigen Lokalnachrichten gewesen, die man an den Stamm gepinnt habe, andere sagen, »hilgen« bedeute »heilig«, denn den Germanen sei ihre Eiche heilig gewesen. Die alte Eiche steht nicht mehr, ein Ersatzbaum aber wurde gepflanzt. Überhaupt sind die Holzwickeder fleißige Gärtner. Sehr gelungen ist der Emscherpark bei der Kirche. Unbegradigt darf sich das junge Flüsschen hier seinen Weg suchen, Enten tummeln sich im Wasser – und auf den Rasenflächen die Menschenkinder. Eine Lore ist noch bis zum Rand mit glänzender Kohle gefüllt. Welche Reize die ursprüngliche Emscher und ihr Tal einmal gehabt haben müssen, davon berichtet uns der mittelalterliche Chronist Beurhaus: »Man genießt daselbst eine recht gesunde Luft und hat vortrefflich klares Wasser.« – Gesunde Luft und vortrefflich klares Wasser! Wer im rauchenden und stinkenden Ruhrpott aufgewachsen ist, kann es nicht glauben. Da muss von einem anderen Fluss die Rede sein. Das Wasser der Emscher vortrefflich klar? Und doch wird es so gewesen sein. Allein die Tiere, die sich in der Emscher getummelt haben sollen: »Hechte, Aale, Bleie und andere Fische, wie auch Krebse.« Der Krebs gibt den Ausschlag. Er krebst nur in absolut sauberen Gewässern herum. Wann wird sich der erste Krebs wieder in die Emscher wagen?

Unser Blick wendet sich vom Emscherbächlein zum Himmel. Auch in den Lüften geht es munter zu. Zunächst halten wir die vielen runden Gebilde in den mächtigen Platanen für Misteln, dann entdecken wir Dutzende von Krähenvögeln in den Zweigen, die runden Gebilde sind wohl ihre Nester.
Wer möchte, kann auf einem Rundwanderweg mehr über die Bergbaugeschichte Holzwickedes erfahren. Bergbau macht durstig. Wir freuen uns wie Kinder, als wir um die Ecke biegen und noch eine Original-Trinkhalle am Emscherufer entdecken. Sogleich wollen wir das historische Gebäude fotografieren, was jedoch dazu führt, dass sich der Wirt ungeheuer aufregt. In gebrochenem Deutsch fragt er uns, was das soll. Unsere Erklärungen scheinen ihm nicht geheuer. Zwei Männer auf Rädern mit gelben Warnwesten, die Trinkhallen fotografieren, da ist doch etwas faul! Auf die Wiedergabe dieses Fotos müssen wir leider verzichten; nach einer Genehmigung für den Abdruck zu fragen, haben wir uns nicht getraut, und außerdem haben wir gar nicht fotografiert.

Gleich hinter Holzwickede kreuzen wir die Grenze und haben nun Dortmunder Boden unter den Reifen, genauer den Ortsteil Sölde. Ein Verkehrsschild warnt mit einem dramatischen Piktogramm vor den Gefahren der jungen Emscher. Wir beschließen, vorsichtig zu sein. Vielleicht hätten wir außer den gelben Warnwesten auch Schwimmwesten überziehen sollen. Atemschutzmasken jedoch braucht zum Glück niemand mehr, der sich der Emscher nähert. Das haben wir vor allem der Emschergenossenschaft zu verdanken. Die Verwandlung der Emscher zu einem Abwasserkanal ist also, so seltsam das klingt, durchaus ein Segen für die Menschen gewesen, ein noch größerer Segen aber ist die Rückverwandlung der Emscher in einen sauberen Flusslauf. Auch dafür ist die Emschergenossenschaft verantwortlich. Wie aber sollte man bei der Renaturierung vorgehen? Alle Zuflüsse vor der Einleitung in die Emscher zu klären erschien den Verantwortlichen wohl utopisch. Man entschied sich für einen anderen Weg: Tief unter dem Emschertal verlegte man riesige Abwasserrohre, in denen man das Schmutzwasser sammelt und zu großen Klärwerken weiterleitet, bevor man es wieder in die Emscher und den Rhein entlässt. So kommt es, dass die dreckige Hälfte des Emscherwassers unterirdisch fließt und nur das saubere Wasser im Flussbett plätschern darf.

Dortmund-Sölde: mit Emscherwasser getauft

Wir erreichen eine Kreuzung und schlagen unseren Stadtplan auf. Bevor wir die Marienkirche finden, ruft jemand: »Kann ich helfen?« Ein kleiner Junge, höchstens sieben Jahre alt, steht auf der anderen Straßenseite und blickt uns freundlich an. Wir sind überrascht. Sehr aufmerksam! Tatsächlich weist uns der Knirps nach kurzem Überlegen auch die Richtung und zwar die richtige.
Kurz darauf grüßt uns ein hoher, aluminiumverkleideter Turm mit einem Hahn auf der Spitze, daneben die Sankt-Marien-Kirche. Hier bin ich getauft worden, fast 60 Jahre ist das jetzt her. Den Taufstein bekomme ich nicht zu Gesicht, die Kirche ist verschlossen. Ob man mich mit Emscherwasser getauft hat, wage ich zu bezweifeln. Was war die Emscher schon anderes als eine stinkende Kloake, und das nicht erst seit den 1960er-Jahren!
»Der schöne, liebliche Emscherfluss von damals ist vollständig verschlammt und voller Morast, eine dunkle, chaotische, jauchige stinkende Masse kriecht träge durch das Emscherbett dahin, und fortwährend aufsteigende Blasen verpesten mit ihren verderblichen Hauchen fortwährend die Luft …« Drastisch, aber sicher nicht übertrieben schilderte eine frühe Bürgerinitiative den Zustand an der Emscher dem verantwortlichen preußischen Landtag. 1882 bereits haben die Bürger die Nase voll und zählen auf, was so alles das Wasser verpestet: »Kot und Dünger, Küchenabfälle, Kehricht, Schutt, Asche, feuer- und explosionsgefährliche Stoffe.« Der preußische Landtag scheint nicht besonders beeindruckt gewesen zu sein, es wurde eher noch schlimmer. Nun aber ist ein neues Zeitalter für die Emscher eingeläutet. Wir sind gespannt darauf, wo ihre Rettung schon gelungen ist. Auf geht’s nach Aplerbeck!

Zwischen Dortmund-Sölde und Dortmund-Aplerbeck läuft die Emscher gebändigt zwischen hohen Deichen, ein Querwerk kann ihr bei Bedarf den Weg versperren und aus ihr einen Stausee machen. Kann es wirklich sein, dass die Emscher bereits in ihren Kinderschuhen bei Regenwetter zu einem gefährlichen Strom anschwillt? Anscheinend. Aus Jux und Tollerei wird man den Aufwand eines Wehres nicht betrieben haben. Heute aber kann die Emscher das Stauwerk fröhlich passieren, ihr aktueller Wasserstand jagt keinem mehr Furcht ein.
Mit Aplerbeck haben wir den Mittelpunkt des Bundeslandes NRW erreicht, zumindest den planimetrischen. Würde man Nordrhein-Westfalen aus einer Deutschlandkarte ausschneiden und so auf eine Nadelspitze legen, dass NRW zu schweben beginnt, dann wiese die Nadelspitze genau auf
Aplerbeck.

Interessanterweise bedeutet der Name Aplerbeck nichts anderes als Apfelbach. Ob damit die Emscher gemeint war? Apfelbach, auch ein hübscher Name. Aplerbeck hat eine lange Geschichte, bereits 899 wurde es in einer Stiftungsurkunde erwähnt. Seine Selbstständigkeit verlor es 1929, als es nach Dortmund eingemeindet wurde. Über den Pott hinaus ist Aplerbeck für seine psychiatrischen Kliniken bekannt. Auf dem Marktplatz stehen zwei bärtige Bronzemänner. Ihre Kutten verschmelzen, sodass sie eine Einheit bilden.

Im Abendlicht sehen wir ein Wasserschloss liegen. Hier wollen wir morgen unsere Reise fortsetzen. Jetzt ist Zeit, zu Abend zu essen, dann geht’s in die Klappe.


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