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29. August 2020

Ausflugs der Woche: Auf dem Emscher-Radweg mitten durchs Ruhrgebiet

Aus: »Emscher-Touren. In 5 Tagen mit dem Fahrrad durch den Pott« von Johannes Wilkes und Rainer Götzfried

Wir stellen Ihnen heute den 5. Reiseabschnitt des Emscher-Radwegs vor: von Oberhausen zum Niederrhein, zur Mündung

Am fünften und letzten Reisetag verschwinden wir im Oberhausener Gasometer, zirkeln durch die verrückteste Brückenspirale, staunen über Duisburger Künstler und Geistesgrößen, bevor wir aus dem Ruhrpott hinausgleiten, hinein in die niederrheinische Tiefebene, und der Himmel immer weiter wird, bis zu dem lauschigen Ort, an dem sich Emscher und Rhein vereinigen.

In türkisch-deutsch geführten Hotels fällt das Frühstück variantenreich aus, beleben doch Oliven und Antipasti die deutsche Brötchenlandschaft. Auch ein frisches Rührei bekommen wir serviert, wer vermisst da das Salzei aus dem Glas? WetterOnline meldet vormittags Regen, wir machen das Beste draus und radeln zum Gasometer. Das Ticketcenter hat ein schützendes Vordach, kann es einen besseren Unterstand für unserer Räder geben?
Doch haben wir die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Entschieden verweist uns die Kassiererin auf die Radständer, die ungeschützt im Freien stehen. »Aber es regnet doch!«, versuchen wir ihr Herz zu erweichen. Ohne Erfolg. Sie müsse darauf bestehen, heute schaue die Chefin vorbei. Das gibt den Ausschlag, wir gehorchen. Ärger mit der Chefin dürfen wir der Ärmsten nicht antun. Ein Fahrrad am falschen Platz! Das könnte den Job kosten.
Wir müssen an Zeche Nordstern denken, auch dort hatte man sich ja an unseren abgestellten Rädern gestört. Das Einzige, was dem Emscherradweg noch fehlt, sind überdachte Fahrradständer. Aber vielleicht liegt es ja auch an uns. Wir leben schon zu lange im Universitätsstädtchen Erlangen, wo es nicht nur an überdachten Fahrradständern mangelt, sondern überhaupt die fröhlichste Fahrradanarchie anzutreffen ist. Im Ruhrpott herrschen eben noch Zucht und Ordnung. Doch nun hinein in den gigantischen Turm.

Damals war es gelungen, das Energiespeicherproblem mit ausgeklügelter Technik zu lösen. Wir können uns kaum vorstellen, dass dies bei den aktuellen Herausforderungen mit dem nötigen Ehrgeiz nicht gelingen sollte.
Als der Gasometer im Jahre 1988 sein letztes Gas ausgehaucht hatte, hieß es: »Der Mohr hat seine Arbeit getan, der Mohr kann gehen.« Zum Glück konnte der Koloss von Oberhausen vor dem Abriss bewahrt werden, was wesentlich der Internationalen Bauausstellung Emscher Park zu verdanken ist.
Die IBA Emscher Park war ein segensreiches, auf zehn Jahre angelegtes Projekt des Landes NRW, mit dem man der Strukturkrise entlang der Emscher erfolgreich begegnete. In der Nachwendezeit, als alles nach Osten schaute, legte man nicht nur den Emscher Park an, sondern kümmerte sich zudem um den ökologischen Umbau des Emscher-Systems, um Wohnen und Stadtentwicklung. Und rettete zahlreiche Industriedenkmäler wie Oberhausens Gasometer. Man entlüftete das Prachtstück gründlich und richtete es für die Öffentlichkeit her – höher ragt keine europäische Ausstellungshalle
in den Himmel. Die Gasdruckscheibe wurde in 4,20 Meter Höhe befestigt.

Spektakuläre Dinge waren im Gasometer schon zu sehen: der größte Mond auf Erden, »The Wall«, eine Mauer aus 13.000 lackierten Ölfässern – oder 2013 jede Menge Luft in Schläuchen, als Verpackungskünstler Christo sein Big Air Package  installierte. »Think big!«, heißt es in Oberhausen. Und nun ruft der Berg. In den unteren Geschossen des Gasometers sind überwältigende Großfotos von Bergen aus aller Welt aufgehängt.

Reinhold Messner hat die Ausstellung mitkonzipiert, es geht um den ewigen Kampf zwischen Mensch und Natur, um die Herausforderung, die verrücktesten Höhen zu bezwingen. Über Treppen und eine Öffnung in der Gasdruckscheibe gelangen wir zum eigentlichen Innenraum. Wir halten den Atem an. In den unvorstellbar hohen schwarzen Raum hat man ein beleuchtetes Objekt gehängt, den Nachbau des Matterhorns. Mit dem Gipfel nach unten schwebt es in der Luft, unter ihm, raumfüllend, eine kreisrunde Spiegelscheibe, die den Alpenriesen wieder auf die Füße stellt. Lichtprojektionen
lassen einen Tag im Zeitraffer vergehen, von der frühen Morgenröte über den gleißend-hellen Mittag zum abendlichen Alpenglühen, bis das Mondlicht übernimmt und die Schneefelder in sein Silber taucht.
So weit das Matterhorn auch entfernt ist, die Ausstellung scheint perfekt ins Ruhrgebiet zu passen. Seltsamerweise spricht man ja auch vom Berg, wenn es in die Tiefe geht. Der Bergmann ist, wenn man so will, das Pendant zum Bergsteiger; Steiger gab es ebenfalls auf jeder Zeche. Ob hinauf oder hinunter, alles nur eine Frage der Perspektive. Oder der Reihenfolge. Beim Bergsteiger geht’s zunächst hinauf und am Ende wieder hinunter, beim Bergmann ist es umgekehrt. »Nur die Aussicht ist auf dem Matterhorn besser.« »Das stimmt. Und vermutlich auch die Luft.«

Uns packt das Bergfieber, nun wollen wir ganz nach oben. Mit einem Innenaufzug sausen wir den ehemaligen Gasbehälter hinauf, oben ist es windig und nass, dennoch genießen wir den schwindelerregenden Rundblick und die Aussicht auf Kanal und Emscher. Hier geht die Emscherinsel zu Ende. Der Rhein-Herne-Kanal läuft weiter zum Duisburger Hafen, den Lauf der Emscher hingegen hat man nach Nordwesten abgeknickt. Im fernen Wolkengrau liegt unser Ziel, die Mündung in den Rhein. Abwärts geht’s!

Schloss Oberhausen und die Slinky Springs to Fame

Rainer zieht ein Handtuch hervor und trocknet unsere nassen Sättel. Zum Glück ist der Regen weitergezogen. Trockenen Hauptes kommen wir zum nächsten kulturellen Highlight Oberhausens, zum Museum. Eine Hochzeitsgesellschaft prostet dem frischgebackenen Brautpaar zu, im anderen Flügel regiert die Kunst. Hier ist auch die berühmte Ludwiggalerie zu Hause. Durch die Scheibe können wir die Werke einer Oberhausener Künstlergruppe betrachten, durchaus beachtliche Regionalkunst.

Vor dem Schloss öffnet sich eine große Spirale. Wir nehmen die Einladung an und lernen das nächste verrückte Brückenkunstwerk kennen, »Slinky Springs to Fame«, sehr poppig und überaus schwingungsfähig. Frisch verliebten Frauen sei empfohlen, sich ans Ende dieser Brücke zu stellen, dann steigt die Chance auf Verpartnerung deutlich. Psychologen hatten für ein Experiment ein und dieselbe Studentin mal ans Ende einer festen Brücke und mal ans Ende einer Wackelbrücke gestellt und ihr männliche Studierende entgegengeschickt. Welcher Gruppe hatte die junge Frau besser gefallen? Eindeutig den Wackelkandidaten! Man spricht von einer Fehlattribution, die Erregung durch die schwingende Brücke wird auf die Frau übertragen, und schon kann sie sich vor Verehrern nicht retten. Am Ende der Spiral-Brücke aber wartet leider kein weibliches Wesen auf uns, so müssen wir unbeweibt weiterradeln.

Duisburg: Alte Emscher und Kleine Emscher

Der Kanal, den wir nun verlassen, folgt auf seinem weiteren Weg größtenteils dem Lauf der ursprünglichen Emscher. Bis zum Jahr 1910 durfte die Emscher hier entlangfließen, Bergsenkungen aber machten ihr die Arbeit immer mühevoller, sodass sich die Emschergenossenschaft entschloss, ihr ein neues Bett zu spendieren, heute Kleine Emscher genannt. Ursprünglich mündete die Emscher in Duisburg in den Rhein, nicht weit von der Ruhr. Ihr früherer Lauf ist nicht vollständig verschüttet worden, die Alte Emscher existiert noch als knapp acht Kilometer langer Altarm, der heute – abgeschnitten vom ursprünglichen Fluss – ausschließlich durch Regenwasser gespeist wird.

Die Alte Emscher durchzieht den Landschaftspark Duisburg-Nord, ein weiteres renaturiertes Industriegelände mit eindrucksvollen Denkmälern aus der Zeit der rauchenden Schlote: einer Bunkeranlage als Kletterparadies, einem Gasometer, den man zu einem Hydrometer umgestaltet hat, sodass man darin auf Tauchstation gehen kann, einem Restaurant in der Hauptschaltzentrale, einer Aussichtsplattform auf dem Dach eines Hochofens.
Besonders an Sommerabenden, wenn alles kunstvoll beleuchtet wird, sollte man einen Besuch einplanen. Und noch etwas darf man nicht verpassen, wenngleich es heute verkehrsumtost und etwas schwer zu finden ist: das Pumpwerk Alte Emscher.

So berührend wie lückenhaft ist die Biografie von Ernst Mautner, des verantwortlichen Bauingenieurs, die wir der lesenswerten Denkschrift Das Pumpwerk Alte Emscher Duisburg entnehmen. Die Herkunft des genialen Technikers liegt genauso im Dunkeln wie sein Ende. Vermutlich wurde er 1879 in Prag geboren, als Sohn jüdischer Eltern. Man nimmt an, dass er an der Technischen Hochschule seiner damals zweisprachigen Geburtsstadt studiert hat, 1907 trat er aus der jüdischen Gemeinde Wiens aus, 1908 begann er als Ingenieur bei Hochtief in Frankfurt, 1909 wechselte er zu einem Düsseldorfer Unternehmen, um dann für viele Jahre bei der kleineren, aber hochspezialisierten Firma Dücker als Oberingenieur tätig zu werden, ebenfalls in Düsseldorf. Bekannt ist noch, dass Mautner 1914 an der Prager Technischen Hochschule seinen Doktor gemacht hat und dass er bis 1930 in Düsseldorf lebte. Dann verliert sich von ihm jede Spur, wie Alexander Kierdorf, der Verfasser der Denkschrift, schreibt.
Wir ziehen unser Handy hervor und geben den Namen Ernst Mautner ein. Die Denkschrift ist zwar erst wenige Jahre alt, dennoch ... vielleicht erfahren wir ja etwas Neues. Nur wenige Einträge bietet uns Google für Ernst Mautner, wir klicken einen der ersten an und sind betroffen. Die Seite nennt sich Buch der Erinnerung: Die ins Baltikum deportierten deutschen, österreichischen und tschechoslowakischen Juden. Seitenweise werden Namen aufgelistet, über 30.000, man musste eine kleine Schrift wählen, sonst wäre das Buch der Erinnerung noch dicker geworden.

Auf Seite 526 stoßen wir auf den Namen Ernst Mautner. Die Seite trägt die Überschrift: von Theresienstadt nach Riga. Sollte es sich wirklich um den Ingenieur des Emscher Pumpwerks handeln? Als Geburtsdatum ist der 23.05.1890 vermerkt, das spräche dagegen, als letzte Adresse allerdings wird Prag genannt. Ist Ernst Mautner nach der Macht ergreifung der Nazis 1933 in seine Heimatstadt geflüchtet? Aber auch von Düsseldorf sind am 27.10.1941 und am 10. November 1941 zwei große Sammeltransporte mit jeweils 1.000 jüdischen Mitbürgern in die Gettos Osteuropas
durchgeführt worden. Was von dem genialen Ingenieur Ernst Mautner bleibt, ist sein mit dem Architekten Alfred Fischer geschaffenes, unter Denkmalschutz gestelltes Pumpwerk »Alte Emscher«, eines der schönsten Zeugnisse deutscher Industriekultur. Im Gegensatz zu Ernst Mautner ist Alfred Fischers weiterer Lebensweg bekannt. Von den Nazis beurlaubt und zwangspensioniert, starb er 1950 im bayerischen Murnau. Liest man die Biografien weiterer verantwortlicher Techniker und Ingenieure, so fällt auf, wie viele weitere von ihnen Opfer des NS-Systems geworden sind, sei es aufgrund ihrer jüdischen Herkunft, sei es aufgrund ihrer politischen Einstellung.

Wir grüßen die Alte Emscher still und schwingen uns wieder in den Sattel. Nun geht es ein Stück parallel zu einer Bahnstrecke. Blieben wir diesem Weg treu, wir würden entlang der Kleinen Emscher radeln, dem 1910 in Betrieb genommenen neuen Mündungsarm. Er durfte bis 1949 die schmutzigen Emscherfluten weiterleiten, dann hatte auch die Kleine Emscher den Kanal voll. Immer weiter hatte sich das ausgehöhlte Ruhrgebiet gesenkt, wieder musste mehr Gefälle und damit eine neue Mündung her.

Der Emscherradweg leitet uns entlang der aktuellen Emscher, so bekommen wir von der Kleinen Emscher nichts mit. Die Kleine Emscher mündete bei Duisburg-Walsum in den Rhein, ein Gebiet, in dem der Thyssen-Konzern mit seinen Stahlwerken herrscht. Was heute kaum mehr im Bewusstsein der Menschen ist: Duisburg war einmal eine bedeutende Universitätsstadt – und ihr bekanntester Wissenschaftler Gerhard Mercator.

Wir haben lange geblättert, bis wir unseren Lieblingsfluss schließlich gefunden haben. Nicht nur den Nil undden Amazonas hat Mercator gezeichnet, auch die Emscherschlängelt sich über eine seiner Karten, natürlich noch mit ihrer ursprünglichen Mündung bei Meiderich, das Mercator »Meyderick« schreibt. Mit stilisierten Stadtansichten versehen, finden sich in Original-Schreibweise Dortmund, Castorp und auch Grimberg. – Grimberg! Wir erinnern uns an die noch erhaltene Schlosskapelle, die man nach Herten transloziert hat. Grimberg liegt an der Mündung eines namenlosen Flüsschens, das von »Boeckum« kommt, worunter wohl Bochum zu verstehen ist. Weil Mercator Grimberg erwähnt hat, ist auch die Ehre Gelsenkirchens wiederhergestellt, auf dessen Hafengebiet ja die Kapelle gestanden hat.

Auch Horst und Boer finden sich auf Mercators Karte (Gelsenkirchen-Buer?), außerdem Bortorff (Bottrop?) und Overhuesen. Gut erkennbar sind auch die politischen Grenzen jener Zeit, grün eingefärbt das Herzogtum Cleve, das den Unterlauf der Emscher aufnimmt, in heller Farbe das Vest »Reclinchusen« mit der Emscher als südliche Grenze. Ein weiterer Künstler darf nicht verschwiegen werden, wenn man im Mündungsgebiet der Emscher unterwegs ist. Hat Gerhard Mercator die Kunst verstanden, Dreidimensionales auf geniale Art zweidimensional darzustellen, so ist es Wilhelm Lehmbruck gelungen, die drei Dimensionen noch durch eine vierte zu bereichern.

Die Brahmsche Windmühle und Emscherschafe

Die Alte Emscher, die Kleine Emscher, die Neue Emscher – im Grenzgebiet zu Duisburg emschert es lustig vor sich hin. Wir folgen natürlich der modernsten Variante. Wegen einer erneuten Baustelle, die uns zu einem kleinen Umweg zwingt, kommen wir nach Holten, was sich als Glücksfall erweist, denn plötzlich steht ein hochinteressantes historisches Gebäude am Wege.

Die Brahmsche Mühle am Rande des ehemaligen Bruchlandes der Emscher drehte sich von 1838 bis 1915, dann betrieb man sie nicht mehr mit Wind, sondern mit Kohle. Hätte man damals schon konsequent auf den Ausbau erneuerbarer Energien gesetzt, hätte es das Ruhrgebiet nie gegeben, und viele Millionen Tonnen CO2 wären in Kohle gebunden für immer in der Erde geblieben. Ironie des Schicksals: Mit dem Verschwinden der Kohle kommt der Wind wieder zum Einsatz, natürlich in modernerenAnlagen, aber immer noch nach dem alten Prinzip.
An die 40 Prozent des deutschen Stroms wird jetzt wieder durch nachhaltige Energieträger produziert, fast wie vor Beginn des Industriezeitalters. Die Brahmsche Mühle ist eines der allerältesten Industriedenkmäler im Ruhrgebiet und zugleich eines der besonders zukunftsweisenden.
Ein weiteres Symbol der Energiewende steht auf dem ehemaligen Mühlplatz, eine wunderbar verbeulte alte Tankstelle. Auch die Tankstelle wird bald zur Industriekultur zählen, Steckdosen werden den Platz der Zapfsäulen einnehmen.
Auf einen Schlenker zum Kastell Holten und zum Revierpark Mattlerbusch, dem vielleicht englischsten Garten an der Emscher, müssen wir leider verzichten, mit Macht zieht es unsere Räder zur Mündung, zum Rhein.

Die nächste Brücke über die Emscher wäre völlig unspektakulär, stünden da nicht die seltsamen Brückenwächter. Sie sehen aus wie überdimensionale Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Figuren; ganz in Blau gekleidet, wurden sie mit Graffiti verziert. Vielleicht sind es ja Emscher-Ärgere-Dich-Nicht-Figuren, denn eigentlich ist es ja der Fluss, der Grund zum Ärgern gehabt hätte. Der Ärger der Emscher aber wird nun bald verklungen sein, gibt sich der Mensch doch redlich Mühe, die Fehler der Großvätergeneration wieder auszubügeln. Der wunderschön blühende Weißdorn am Wege steht symbolisch für diese Wandlung.

Kurz darauf geraten die nächsten Faultürme in unseren Blick, des letzten der Big-Five, der großen neuen Emscherklärwerke. So ganz klar aber ist das Wasser hinter dem Klärwerk noch nicht, im Gegenteil, weiße Schaumkronen treiben auf den Wellen. Das muss aber nichts bedeuten, die Wasserqualität kann durchaus okay sein. Von der Nordsee kennen wir das Phänomen. Wachsen eiweißreiche Pflanzen in den Fluten, kann das Wasser gelegentlich zum Schaumschläger werden. Und siehe: Bald schon lösen sich die Schaumwolken auf, und die Emscher wird wieder glasklar. Einen Trimm-dich-Pfad mit wahren Folterinstrumenten hat man am linken Ufer angelegt, am Rande einer begrünten Halde. Was mag sich in ihrem Inneren befinden? Abraum aus dem Bergbau oder simpler Müll?

Wenig später grast eine Herde Schafe am steilen Uferhang. Wer die Schmähung »dummes Schaf« nur erfunden hat? Schafe sind keine IQ-reduzierten Grasfresser, sondern intelligente Landschaftspfleger, welche die Deiche vor Verbuschung schützen und damit den Menschen vor Hochwassern. Der Schäfer steht am Zaun, wie Schäfer so am Zaun stehen: tiefenentspannt. Sein Hütehund ist deutlich aktiver, läuft von einem Ende der Herde zum anderen und sorgt für Ordnung. Die Emscher scheint tatsächlich wieder sauber zu sein, manche Schafe trauen sich dicht an ihre Ufer, sehr dicht sogar!

»Ist Ihnen noch kein Schaf in die Emscher geplumpst?«, wollen wir wissen.
»Doch, doch«, sagt der gemütliche Schäfer.
»Springen Sie dann hinterher?«
Der Schäfer muss lachen: »I wo! Die schaffen’s von allein wieder an Land.« Sportliche Tiere.

Zur Mündung bei Dinslaken

Der eigentliche Ruhrpott liegt nun hinter uns, wir radeln durch die niederrheinische Tiefebene. Baumreihen zieren nun die Emscherufer, ein wahrhaft idyllisches Bild, fast wie in Worpswede.
Vielleicht ist die Emscher mehr als nur ein renaturiertes Flüsschen, vielleicht steht sie für eine neue Zeit. Vielleicht besinnt sich der Mensch ja tatsächlich, hält inne in seinem Bestreben, die Natur auszubeuten, versucht, die geschlagenen Wunden wieder zu heilen. Zurück zum Ursprung, das allerdings wird eine Illusion bleiben, das wird nicht funktionieren, und doch: Beweist nicht die Emscher, dass selbst die schlimmsten Umweltverbrechen gesühnt werden können?

Schön wär’s, doch die Skepsis überwiegt. Nicht der Einsicht der Menschen hat die Emscher ihre Rettung zu verdanken, sondern einzig und allein dem Umstand, dass es wirtschaftlich im Revier nichts mehr zu holen gab. Das Aus für die Kohle war der Start für die Renaturierungsaktion. Und dieses Gesetz wird überall auf der Welt weiter Bestand haben: Solange es sich wirtschaftlich lohnt, die Erde zu plündern, solange wird man sie weiter ausbeuten. Erst wenn sie ihre letzten Schätze hergegeben hat, lässt man die Natur wieder Natur sein – oder das, was von ihr übrig bleibt.

Die Türme von Dinslaken gleiten an uns vorbei, nun kann es nicht mehr weit sein, und tatsächlich: »Emschermündung 0,8 Kilometer« meldet der Wegweiser. Wir durchqueren noch mal eine kleine Siedlung, dann geht’s wieder hoch zum Deich. Ein letztes Sperrwerk liegt vor uns, ein letztes Mal lässt sich die Emscher bei Hochwasser stauen.

Hinein in den Rhein!

In dem breiten Abschnitt vor der Sperre schwimmen unzählige Vögel auf den Wellen, viele Möwen sind darunter. Also muss es hier etwas zu fressen geben, Fische vielleicht sogar? In den grünen Mündungsauen sind große Bagger aktiv. Eine Bautafel erklärt uns den Grund. Auf einem überdimensionalen Foto sehen wir ein richtiges Mündungsdelta mit Inseln und Stromschnellen. Wieder bekommt die Emscher eine neue Mündung, die vierte nun schon, ein paar Hundert Meter rheinabwärts. Dann wird nicht mehr Dinslaken, dann wird Voerde der neue Mündungsort sein. Hierdurch wird die Emscher barrierefrei, Fische können ungehindert zum Rhein.
Zum Rhein! Da liegt er ja schon! Deutschlands größter Strom, nirgends in Deutschland ist er breiter als hier. Die Emscher nimmt er mit freundlicher Lässigkeit in seine Arme, kein Wunder, die Sammlerin aller Köttelbecken stinkt ja nicht mehr.

Nun kann sie dem Rhein helfen, die mächtigen Schiffe zu stemmen, die auf ihm entlanggleiten, hinunter zur Nordsee. Dutzende von gelb-grünen Traktoren und weißen Transportern sehen wir auf einem Kahn, ein ganzes Parkhaus voller Autos auf dem nächsten, einer scheint sogar mit Kohle beladen.
Die Kohle war ihr Schicksal, so könnte ein Buch über die Emscher heißen. Der Pott und die Emscher – eine spannende, nicht immer ganz saubere Geschichte hat ein neues Kapitel aufgeschlagen. So viel Kunst, so viel Geschichte, so viele interessante Menschen, so viele höchst unterschiedliche Landschaftseindrücke auf nur knapp 100 Flusskilometern: Die Emscher ist etwas für Entdecker!

Wir bleiben noch ein Weilchen stehen und schauen zu, wie sich die Wellen vereinigen. Unsere Tour ist zu Ende. Fast schade. Hat uns beiden Emscherlingen viel Spaß gemacht. Die Mündung in den Rhein Die Emscher ist ein Fluss, den man unbedingt im Team bereisen sollte. Wie hat es noch Helmut Bracht, einst Fußballer vom BVB, in seinem wunderbaren Ruhrsprech auf den Punkt gebracht? »Allein bist du eine Pflaume!«


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